Ali Çukur wurde 1960 in der Türkei in einem Ort in Anatolien geboren. Nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei am 30. Oktober 1961 machen sich viele türkische Männer auf, um als »Gastarbeiter« nach Deutschland zu gehen. So auch der Vater von Ali. Er verlässt 1964 seine Familie, reist über Istanbul nach München und findet dort eine Beschäftigung. Die Mutter folgt ihm im Jahr 1967 nach. Die Kinder allerdings bleiben in der Türkei, man denkt zunächst nur an einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland. Ziel ist es, viel zu arbeiten, Geld zu verdienen und zu sparen. Mit der Zeit gewöhnt sich das Ehepaar Çukur aber an das Leben in Deutschland – auch weil es ganz gut läuft in München. So holen sie im September 1969 den Sohn Ali und die ältere Tochter zu sich nach München.
Die Reise nach München ist für Ali etwas ganz Besonderes und stellt für ihn noch heute ein unvergessliches Erlebnis dar. Schon die Reise von Anatolien nach Istanbul ist ein Abenteuer. Er sieht dort erstmals das Meer und darf darin baden. Dann steigt er zum ersten Mal in seinem Leben in ein Flugzeug. Bei der Ankunft in München regnet es, Ali hat eine kurze Hose an und friert und zittert vor Kälte. Arbeitskollegen des Vaters bringen die Geschwister am Flughafen Riem in einer Wohnbaracke unter, bis sie von den Eltern nach der Arbeit abgeholt werden.
Die Wohnung der Familie befindet sich am Harthof. Das erste Wort, das Ali lernt, ist »Brot«. Sein erster Einkauf ist ein Gang zum Bäcker. Den Wert der deutschen Münzen kennt er nicht. Er legt alles auf den Tisch – und bekommt dafür sieben oder acht Laibe Mischbrot. Die Eltern wundern sich, warum er so viel Brot nach Hause bringt.
Zwei Söhne der Familie Çukur befinden sich noch in der Türkei bei Verwandten. Ein tragischer Unglücksfall passiert, als die Mutter auch die beiden Söhne mit dem Zug nach München holt. Die Reise mit der Eisenbahn von Istanbul nach München dauert über 50 Stunden. Kurz vor München schläft die Mutter im Zug ein. Sie bemerkt nicht, wie ein Kind das Abteil verlässt und auf dem Korridor vor der Zugtür spielt. Die Tür geht aus unerfindlichen Gründen auf, das Kind fällt heraus und verletzt sich so schwer, dass es stirbt. Der Verlust des Bruders beschäftigt Ali noch heute.
Um das Jahr 1974 fängt Ali beim TSV Milbertshofen mit dem Boxen an. Er ist wendig und lernt schnell. Als ihn die Boxabteilung des TSV 1860 für einen Kampf gegen einen anderen Verein ausleiht, fällt deren Abteilungsleiter Helmut Fischer das Talent des jungen Boxers auf. Er macht ihm ein Wechselangebot. Ali will jedoch seinen Trainer in Milbertshofen nicht verlassen. So übernimmt der TSV 1860 beide, den jungen Boxer und seinen Trainer. Zum Jahresende 1974 wird Ali Çukur ein »Löwe«.
Ali boxt sehr erfolgreich. Er erringt in verschiedenen Gewichtsklassen mehrmals die Bayerische Meisterschaft und erreicht bei den Türkischen Meisterschaften den dritten Platz. Der türkische Boxverband nominiert ihn 1982 für die in München stattfindenden Amateurboxweltmeisterschaften. Ali ist der einzige Münchner Boxer bei den Titelkämpfen. Er erreicht das Viertelfinale und erkämpft sich den 5. Platz. Bald danach beendet er seine aktive Laufbahn und wird Trainer im Verein, für den er etwa 280 Kämpfe bestritten hat.
Ali Çukur entwickelt die Boxabteilung zu einem »sozialen Projekt«, indem er Jugendliche – Jungen wie Mädchen – von der Straße in den Boxring holt. Er lehrt ihnen Disziplin und Verantwortung, spricht mit ihnen, veranstaltet Workshops und führt Anti-Gewalttrainings mit ihnen durch. Seine Boxgruppe ist wie eine Familie. Auch sportlich geht es bergauf mit der Boxabteilung. Man startet inzwischen in der Bundesliga, Deutsche Meisterschaften bei den Männern und bei den Frauen werden errungen.
Ali fühlt sich heute in München und bei den Löwen sehr wohl. Der Verein ist sein Lebensinhalt, ohne Sechzig könne er sich kein Leben vorstellen. »Ich habe mich immer wie ein echter Münchner gefühlt« antwortet er auf die Frage, was für ihn Heimat sei.