Januar 2016, Mitternacht: Mohamad Awata steht in der Türkei am Mittelmeerstrand und blickt in die Nacht. Er ist Teil einer Gruppe von 76 Personen und der Mann, der diese Gruppe übers Meer bringen soll, deutet auf ein rotes Licht in der Dunkelheit. Das sei Griechenland, dorthin soll es gehen. Sieben Boote machen sich auf den Weg, drei erreichen das Ziel, die anderen kentern und gehen unter. Awata gehört zu den Überlebenden und macht sich auf den Weg von Griechenland nach Deutschland.
Mohamad Awata wurde am 10. Juli 1993 in der syrischen Hauptstadt Damaskus geboren. Schon bald entdeckte er seine Leidenschaft für den Fußball und spielte für Al-Wahda, einen der führenden Vereine Syriens. Bereits mit 16 Jahren rückte er in den Kader der ersten Mannschaft auf, für die er später ein Qualifikationsspiel zur Asian Champions League bestreiten sollte. Außerdem wurde er in die Juniorenmannschaften des syrischen Verbands berufen. Einer großen Fußballkarriere schien nichts im Wege zu stehen.
Mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien änderte sich die Situation grundlegend. Die Familie – Mutter, Vater, drei Schwestern und ein Bruder – lebte außerhalb von Damaskus und eine nun bestehende Grenzlinie erlaubte es nicht mehr, die Stadt und die Anlage seines Vereins zu erreichen. Die Ernährungslage war schwierig, Bombeneinschläge gehörten zum Alltag. Die Mutter kam bei einer solchen Attacke ums Leben; Mo selbst trägt heute noch Bombensplitter im Körper. So reifte nach einigen Jahren in dieser Notlage der Entschluss, das Land zu verlassen, um wieder Fußball spielen und der Familie helfen zu können. Ziel der Flucht sollte München sein; ein Freund der Familie hatte Mo erzählt, dort gebe es einen Zweitligisten, den TSV 1860, der für talentierte Fußballer Verwendung haben dürfte.
So befand sich er sich im Januar 2016 in der eingangs beschriebenen Situation, vor der zweifelsfrei gefährlichsten Etappe des Wegs nach Europa, einem Wagnis, von dem Mo sagt, dass er es so möglicherweise nicht noch einmal eingehen würde. Doch es ging gut und über Griechenland und den Balkan gelangte er nach Deutschland. Von einem Fliegerhorst nahe München wurden die dort versammelten Flüchtlinge auf verschiedene Großstädte verteilt; für ihn ging es nach Stuttgart. Dort hielt er eifrig Ausschau nach Trainingsmöglichkeiten, denn der bereits erwähnte Freund der Familie hatte inzwischen den Kontakt zu 1860 hergestellt und ein Probetraining bei der von Daniel Bierofka trainierten 2. Mannschaft des Vereins vermittelt.
Die erste Trainingseinheit am 21. April 2016 an der Grünwalder Straße ist Mohamad Awata bis heute in Erinnerung geblieben; er habe Tränen in den Augen gehabt. Sein Auftreten überzeugte Daniel Bierofka – keine Selbstverständlichkeit nach so langer Fußballpause – und der TSV 1860 bot ihm einen Vertrag an. Dieser Arbeitsvertrag bedeutete zugleich die Berechtigung, Stuttgart verlassen und sich im Bundesgebiet frei bewegen zu dürfen; die Behörden erwiesen sich insgesamt als umgänglich. In München wurde die Kabine zur neuen Heimat und ersetzte zugleich den Sprachkurs; neue und beständige Freundschaften wurden geschlossen. Bis zur Spielberichtigung waren noch einige Formalitäten zu erledigen, doch in der Saison 2016/17 rückte Mo in den Kader der Regionalligamannschaft der Löwen, für die er am 4. März 2017 in Memmingen sein Debüt gab.
Nicht so gut lief es hingegen beim TSV 1860: Abstieg aus der 2. Liga, Lizenzverweigerung für die 3. Liga, Rückstufung der 1. Mannschaft in die Regionalliga Bayern und der 2. in die Bayernliga Süd. Mohamad Awata spielte eine sehr gute Saison in der Zweiten mit zehn Toren in 29 Spielen. In der Ersten kam er zweimal zum Einsatz, erzielte am letzten Spieltag bei der SpVgg Bayreuth ein Tor und bereitete zwei weitere vor. Der Verein plante jedoch nach dem Aufstieg in die 3. Liga weiterhin mit ihm im Bayernliga-Kader, weshalb er sich entschloss, das Angebot eines früheren Trainers anzunehmen und zum jordanischen Spitzenklub Al Jazeera zu wechseln. Dort blieben jedoch die Gehaltszahlungen zunehmend aus, weshalb er nach München zurückkehrte und beim Regionalligisten SV Heimstetten anheuerte, wo er seither, abgesehen von einem einjährigen Intermezzo beim 1. FC Schweinfurt 05 die Fußballschuhe schnürt.
Heimisch geworden ist Mohamad Awata vor allem, weil er hier ohne Angst vor Krieg und Bombeneinschlägen schlafen gehen und aufwachen kann. Den SV Heimstetten bezeichnet er heute als seine “zweite Familie”. Er hat Arbeit gefunden und ein Auskommen, das ihm erlaubt, seine Familie zu unterstützen. Zudem hat er die Trainer-B-Lizenz erworben und hofft, so auch nach dem Ende der aktiven Laufbahn dem Fußball verbunden zu bleiben. Die emotionale Verbindung mit Giesing ist ungebrochen, der TSV 1860 bleibt sein Herzensverein. Mo erinnert sich mit Dankbarkeit an die offene und vorbehaltlose Aufnahme durch Mannschaft und Verein, was ihm den Start in neuer Umgebung erheblich erleichterte, ebenso an die vielen Begegnungen mit den Fans, aus denen Kontakte und Verbindungen entstanden, die bis heute bestehen. Das Nachwuchsleistungszentrum der Löwen wird immer mal wieder Trainer benötigen; wer weiß, vielleicht gibt es irgendwann eine Rückkehr an die Grünwalder Straße.